Bauern, Ketzer, Rassekrieger

Der aufstand der stedinger

Von Asmut Brückmann

Die Zeit der großen Kreuzzüge war eigentlich vorbei. Doch im Frühjahr 1234 rief der Papst noch einmal zum Heiligen Krieg auf. Diesmal nicht ins Heilige Land und gegen die Muslime, sondern gegen ein Ketzernest vor den Toren Bremens in der Wesermarsch. Stedinger Bauern waren es, die sich der Autorität des Bremer Erzbischofs widersetzten. Bei Altenesch kam es zur Entscheidungsschlacht. Gegen die waffenklirrenden Ritter aus Brabant, Flandern, Holland und vom Niederrhein hatte das mit Dreschflegeln und Sensen bewaffnete Bauernheer keine Chance. Nur wenige kamen davon. Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Für Patrioten des 19. Jahrhunderts waren die angeblichen Ketzer Vorkämpfer einer deutschen Nation; und im 20. Jahrhundert vereinnahmten die Nationalsozialisten sie als erdverbundene Streiter „deutschen Blutes“. Über derlei Klassifizierungen hätten die Stedinger vermutlich verständnislos den Kopf geschüttelt.

1934: Nazi-Feier „Stedings-Ehre“

Für die Propaganda der Nationalsozialisten war die Geschichte der Stedinger ein gefundenes Fressen. Freie, hart arbeitende Bauern, geschlagen von fremden adligen Ausbeutern – das passte in ihr völkisches Konzept von „Blut und Boden“ und vom „Kampf ums Dasein“. Reichsstatthalter Carl Röver aus Oldenburg und seine Gefolgsleute nutzten das Jubiläum der Schlacht am 27./28. Mai 1934 zu einer Großveranstaltung unter dem Motto „Stedings-Ehre“. Dabei präsentierten sie sich als Rächer und Erben der Stedinger. Der „Völkische Beobachter“, Parteiorgan der NSDAP, jubelte: „Girlanden winden sich auf den Landstraßen von Baum zu Baum, von den Giebeln friesischer Bauernhäuser wehen die Flaggen des Reiches. […] Überall auf dem Deich längs der Weser flammen die Feuerstöße, überall in den Dörfern sammelt sich die Bauernschaft zu örtlichen Feiern.“

Kranzniederlegungen, Festgottesdienste, Kundgebungen und Aufmärsche folgten. Am Sonntag dann der Höhepunkt: die Uraufführung des „Heimat-Freilichtspiels“ De Stedinge des Heimatdichters August Hinrichs. Man hatte eigens eine „historische“ Dorfkulisse aufgebaut und rund 300 niederdeutsche Schauspieler und Statisten aus Oldenburg engagiert. Etwa 30.000 Menschen ließen sich das Spektakel nicht entgehen. Für Bremer Besucher hatte die Schreiber-Reederei einen Pendelverkehr mit ihrem neuen Salonschiff „Hanseat“ eingerichtet: „Beste Fahrgelegenheit zur 700-Jahr-Feier ‚Stedings-Ehre‘ – Landung direkt in Altenesch – Abfahrt nur Kaiserbrücke – Fahrpreis nur 50 Pfg., Rückfahrt frei“. Trotz leichtem Regen nutzten viele Fahrgäste die Gelegenheit zu einem Sonntagsausflug an die Ochtum.

Auch der Bremer Senat und hohe NS-Prominenz waren erschienen, darunter Reichsbauernführer Walter Darré sowie der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg. Kein Wunder, dass Hinrichs‘ Stück in der staatlich kontrollierten Presse gut ankam. Das „packende Drama eines volksverwurzelten Dichters“ zeige die „Entstehung des völkischen Bewusstseins in einer Schar erdverbundener, treuer Menschen und ihrer Führer“. Der „Völkische Beobachter“ konstatierte befriedigt: „Die Bauern heben den Arm, die Bauern singen das Sturmlied Horst Wessels, singen die Lieder vom freien Bauerntum.“ Begonnen hatte man am Vorabend mit einer Feierstunde am Denkmal Stedingsehre bei Altenesch, das hundert Jahre zuvor zur Erinnerung an die „im Kampf für Freiheit und Glauben gefallenen Stedinger“ errichtet worden war. Dabei hatte Rosenberg – 700 Jahre kühn überspringend – die Bauern von Altenesch mit den Straßenkämpfern der SA verglichen und verkündet: „Was vor 700 Jahren unterlag, heute hat es gesiegt: Es ist unsterbliches deutsches Blut.“

Das Denkmal Stedingsehre
am Ortseingang von Altenesch. (c) wiki gemeimfrei

1834: Nationalfest und „Stedingsehre“

Das Denkmal Stedingsehre, ein gusseiserner Obelisk, ist heute noch am Ortsausgang von Altenesch zu sehen. Die Aufschrift auf den Seiten lautet: „Den im Kampfe für Freyheit und Glauben auf diesem Schlachtfelde gefallenen Stedingern – Am 22. May 1234 unterlag den mächtigen Feinden das tapfere Volk – Am Jahrestage der Schlacht 1834 geweihet von späten Nachkommen – Bolke von Bardenfleth, Thammo von Huntorp, Detmar vom Dieke fielen als Führer mit ihren Brüdern.“ Der Anstoß zur Feier und zur Errichtung des Denkmals ging vom Altenescher Pastor Gerhard Steinfeld (1769-1846) aus. Steinfeld fand Geldgeber für den Obelisken, der in einer Gießerei im Harz hergestellt wurde. Steinfeld war begeistert über die Resonanz auf seine Initiative: „Groß war die Theilnahme für dieses Nationalfest. […] Schon vom Mittage an strömte ein große Menge Volks im Festanzuge […] zum alten Schlachtfelde hin, die Weser und Ochtum waren mit Schiffen, die Wege mit Fuhrwerken, Reitern und Fußgängern bedeckt und lange Züge froher Menschen wandelten in Frieden dem Ort zu, wo vor 600 Jahren Tausende wilder Krieger wüthend gekämpft hatten.“

Inspiriert von der zeitgenössischen Nationalbewegung machte Steinfeld die Gedenkfeier zu einem Nationalfest. In seiner Ansprache vermied er allerdings martialische Töne. Im Gegenteil, er pries den friedlich-patriotischen Charakter der Feier: „Ein Geist, der Geist ächter Humanität und gesetzlicher Freyheit schien alle Anwesenden zu beseelen.“ Ob die Emotionen der Festversammlung und der Marschenbauern allerdings über die Wesermarsch und das Oldenburger Land hinausgingen, ist durchaus fraglich.

1234: Kreuzzug in die Wesermarsch

Die Stedinger – waren sie nun Vorläufer von Humanität und Freiheit, Kämpfer um Blut und Boden oder bösartige Ketzer? Es begann damit, dass Erzbischof Friedrich I. Anfang des 12. Jahrhunderts holländische Siedler als Experten für Entwässerung und Deichbau anwarb, um das unwirtliche Marschland rings um Bremen nutzbar zu machen. Die Bedingungen waren attraktiv: niedrige Abgaben, keine Frondienste, freie Verfügung über Grund und Boden sowie weitgehende Selbstverwaltung. Die neuen Siedler machten sich ans Werk, entwässerten Moore und Sümpfe und schützten das Neuland durch Deiche vor Überflutungen. Verständlich, dass die Bauernfamilien schließlich die Erträge ihrer Mühen für sich behalten und unabhängig werden wollten. Ihr Ziel: eine freie Bauernrepublik ohne Grundabgaben und ohne Bindung an den Erzbischof.

Eine eigenständige Bauernrepublik? Das alarmierte nicht nur den Erzbischof, sondern auch die Grafen von Oldenburg und Hoya, die ebenfalls ein Auge auf das fruchtbare Neuland geworfen hatten. Dem musste ein Riegel vorgeschoben werden! Zur Not mit Gewalt! Ein jahrelanger Kleinkrieg begann. Anfang des 13. Jahrhunderts suchte schließlich Erzbischof Gerhard II. die Entscheidung. Mit fadenscheinigen Begründungen ließ er die Stedinger als Ketzer verurteilen: Sie würden die Sakramente missachten, Priester angreifen, Kirchen und Klöster zerstören, an Geister und Dämonen glauben und die Autorität der Kirche leugnen. Dies Sündenregister rief auch den Papst auf den Plan. Er rief zum Kreuzzug gegen die aufmüpfigen Ketzer auf und versprach allen Kämpfern einen Ablass von Sündenstrafen. Adlige Streiter aus ganz Westeuropa machten sich nun mit ihrem Gefolge auf den Weg nach Bremen. Schützenhilfe erhielt der Erzbischof auch von den Bremer Stadtbürgern. Sie stellten Transportschiffe zur Verfügung. Dafür musste er das Bremer Stadtrecht anerkennen, auf unberechtigte Zölle und Abgaben verzichten und Bremer Kaufleute vom Heeresdienst befreien.

Bauern und Ritter kämpfen gegeneinander. Die Schlacht bei Altenesch wurde im 13. Jahrhundert in der Sächsischen Weltchronik dargestellt.
Die Schlacht bei Altenesch; Miniatur aus der Sächsischen Weltchronik (13. Jahrhundert) (c) wiki gemeinfrei

Im Mai 1234 zogen die Kreuzfahrer unterstützt von priesterlichen Gesängen mit 4000 bis 5000 Mann in die entscheidende Schlacht. Die Ritter kannten keine moralischen Skrupel. Albert von Stade, Bremer Domherr und Abt des Benediktinerklosters in Stade, hielt das Ergebnis zufrieden in seinen Annalen fest. Dabei nahm er kein Blatt vor den Mund:

„Und so rückten der Bremer Erzbischof und [die Kreuzfahrer] einmütig gegen jene, die die göttliche Geduld missbrauchten, vor, bereit zu unterliegen oder die Stedinger samt ihrem nichtswürdigen Werken zur Ehre und zum Ruhme Jesu Christi und der Kirche von Grund auf auszurotten. Die Stedinger, als ob sie an den Brüsten wilder Tiere großgezogen wären, wüteten jetzt immer grausamer […]. Und in ihrem überaus wunderlichen Starrsinn verharrend, hörten sie auch jetzt nicht auf, die Schlüsselgewalt der Kirche mit ihren schändlichen Lippen schimpflich zu verhöhnen.

Bolko von Bardenfleth, Tammo von Huntorf, Thedmarus vom Deich und andere sehr böse Verleumder ermahnten sie energisch, Leben und Vaterland zu verteidigen, indem sie sagten, es sei entweder nötig zu unterliegen oder wie reißende Hunde zu wüten. Inzwischen überquerten die Kreuzfahrer zur Mittagszeit den Fluss Ochtum über eine Schiffsbrücke […]. Die Stedinger, als ob sie rasend geworden wären und vom Wahnsinn angefacht, fürchteten die Menge der Kreuzfahrer nicht, […], sondern rückten […] wie rasende Hunde gegen die Kreuzfahrer vor. Der Herzog von Brabant und der Graf von Holland griffen beim ersten Anlauf jene Verpesteten beim Feld Altenesch […] schwungvoll an, aber sie verteidigten sich mit höchstem Eifer. Sofort griff sie der Graf von Kleve mit den Seinigen von der Seite an und vernichtete ihre Schlachtreihe. Der Klerus, der fernab stand, erwartete den Ausgang der Ereignisse, wobei er […] für den Sieg des Kreuzes betete.“

Am Ende, so ein Historiker 1865, lagen Tausende Bauern „auf dem blutgetränkten Gefilde, von Lanzen durchbohrt, von Rossen zerstampft. Auch Frauen […] waren unter den Todten“. Die Überlebenden mussten sich dem Erzbischof beugen, auf ihre Freiheiten verzichten oder das Land verlassen.

Die Stedinger – Revolutionäre, Freiheitskämpfer?

Was waren nun die Stedinger Bauern? Waren sie Freiheitskämpfer gegen feudale Unterdrücker? So der Rechtenflether Heimatdichter Hermann Allmers in seinem „Marschenbuch“ von 1858: „Es war eine todesmuthige Schaar, die für die höchsten Güter auf Erden stritt, für Freiheit, Recht und für den lieben, theuren Heimathsboden, welchen die Väter mit Mühe und Noth den Fluthen entrungen, viele Jahre hindurch vertheidigt und oft mit ihrem Blute gedüngt hatten.“ Oder waren sie Aufrührer gegen die gottgegebene Obrigkeit? So das Urteil des Stader Superintendenten Friedrich Wilhelm Wiedemann in seiner „Geschichte des Herzogthums Bremen“ von 1864: „Wir wollen die Kraft und Aufopferungsfähigkeit der Stedinger anerkennen; wir wollen den Fürsten nicht rühmen, der mit Lug und Trug das Kreuzheer zusammenbrachte; aber wir müssen immer die Behauptung aufrecht erhalten, […] die Stedinger waren ungerechtfertigte Empörer.“ Allmers, der die Mentalität seiner Heimat kannte, kam schließlich zu einem nüchternen Fazit: „Es besitzt kein Volk ein so prächtiges Oppositionstalent als das der Marschen. Zur Revolution taugt es dagegen ganz und gar nicht, da ihm alles Feuer und alle echte Begeisterung abgehen und es conservativ durch und durch ist.“ Auch das muss offen bleiben: Wir kennen die Gedanken der Stedinger nicht; schriftliche Zeugnisse haben sie nicht hinterlassen.