Dr. Olena Pokhodiashcha

Von Kiew nach Bremen

Von Kiew nach Bremen

Dr. Olena Pokhodiashcha, Kunsthistorikerin und Museologin, war bis zum kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine am Nationalen Historischen Museum der Ukraine in Kiew tätig. Mit finanzieller Unterstützung der Ernst-von-Siemens-Stiftung arbeitet sie nun ein Jahr lang am Focke-Museum – Bremer Landesmuseum für Kunst und Kultur, wo sie unter anderem Führungen in ihrer Muttersprache anbietet. Im folgenden Text berichtet sie von ihrer Flucht nach Deutschland und ihrer Arbeit in Kiew und Bremen.     

Schon am ersten Tag des Krieges wurde Kiew von der russischen Armee bombardiert.  Zusammen mit meinen Eltern floh ich in einen Luftschutzkeller. Es gab dort kein Licht, kein Wasser und keine Toiletten. Der Luftschutzkeller war überhaupt nicht hergerichtet, denn die Ukraine hatte nicht mit einer solchen Aggression ihres „Freundes“ Russland gerechnet.  

Wir erlebten schlaflose Nächte, Kinder weinten, alte Menschen stöhnten, viele von ihnen brauchten medizinische Hilfe. Aber im Bombenhagel gab es keine medizinische Versorgung, was besonders für die Alten schwierig war. Alle halfen sich gegenseitig so gut sie konnten.

Meine Mutter und ich entschlossen uns, Kiew zu verlassen und nach Lemberg (Lviv) zu gehen. Mein Vater entschied sich, mit den anderen Männern in Kiew zu bleiben und an einen sichereren Ort zu ziehen. Ständig sind meine Gedanken bei meinem Vater und all den Menschen, die in der Ukraine geblieben sind. Zusammen mit meiner Mutter stieg ich in Kiew in einen Zug nach Lviv. Aber der Bahnhof wurde sieben Stunden lang beschossen, so dass der Zug nicht abfahren konnte. Wir legten uns auf den Boden und löschten das Licht, jeder schaltete seine Geräte und Handys aus. Als der Angriff nachließ, verließen wir den Kiewer Bahnhof in Richtung Lviv. Mütter mit Kindern und ältere Menschen reisten mit uns, viele Menschen waren nur mit ihren Dokumenten und geliebten Haustieren unterwegs.

Zwei Wochen lang lebten wir dort bei der Familie meiner Kollegin, einer Professorin an der Polytechnischen Universität. Dort erreichte uns die Frage von Prof. Dr. Wolfgang Eichwede, dem früheren Leiter des Osteuropa-Instituts an der Universität Bremen, und seiner Frau Elisabeth, ob ich mit meinen Eltern nach Bremen kommen wollte. Nach dem Beginn der Bombardierung von Lviv machten wir uns die Entscheidung nicht leicht, nach Bremen zu gehen. Doch am Nationalen Historischen Museum in Kiew ist ein normales Arbeiten nicht mehr möglich, alle Ausstellungen wurden abgebaut, die Exponate sind verpackt. Nur der Direktor und einige Sicherheitskräfte sind noch dort, meine männlichen Kollegen kämpfen im Krieg.

Über Wolfgang Eichwede entstand auch der Kontakt zum Focke-Museum, wo die Direktorin, Prof. Dr. Anna Greve, sich dafür einsetzte, mich hier zu beschäftigen. Die Ernst-von-Siemens-Stiftung bewilligte den von ihr gestellten Förderantrag und finanziert jetzt ein Jahr lang meine Stelle am Bremer Landesmuseum.  

Kunsthistorikerin Olena Pokhodiashcha vor einem Gemälde von Franz Wulfhagen, der „Hochzeit zu Kana“, ihrem Lieblingsbild im Focke-Museum.

Ich bin der Direktorin und dem gesamten Team des Focke-Museums sehr dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, meine geliebte Museumsarbeit fortzusetzen. Zurzeit beschäftige ich mich mit den mittelalterlichen Kunstwerken der Sammlung und studiere die Geschichte Norddeutschlands und Bremens. Für die in Bremen lebenden Ukrainer und Ukrainerinnen biete ich Führungen an, z.B. zu den „Zehn interessantesten Dingen über Bremen“, durch Haus Riensberg, das Bauernhaus Mittelsbüren und die Scheune Tarmstedt. Mit vielen Kooperationspartnern richteten wir am 22. Mai 2022 im Focke-Museum den Tag „Stimmen aus der Ukraine“ aus, der neben einem Kulturprogramm auch wichtige Informationen über mein Land vermittelte.     

Seit 1997 arbeite ich am Nationalen Historischen Museum der Ukraine in Kiew, wo ich die Skulpturen- und Gemäldesammlungen betreue, zur mittelalterlichen und zeitgenössischen Kunst forsche und Ausstellungen konzipiere.  Meine Doktorarbeit untersucht die „Ukrainische Porträtmalerei des 17. bis 18. Jahrhunderts: Historische und ikonografische Forschung“. Dafür habe ich die ukrainische Malerei im europäischen Kontext studiert und so viele Aspekte der Ikonografie und der Entwicklung der ukrainischen Kunst, ihrer Gattungen und Merkmale verstehen gelernt. Viele ukrainische Kunsthandwerker haben in Europa studiert. Künstler aus Europa kamen in die Ukraine und arbeiteten mit einheimischen Künstlern zusammen. Nur so kann man alle Stile und Richtungen der ukrainischen Volkskunst und der professionellen Kunst verstehen. Neben meiner Museumsarbeit lehre ich europäische Kunstgeschichte. Mit den Wissenschaftlern aus Bremen stehe sich seit zwei Jahren in Kontakt, um  kunsthistorische Fragen zu erörtern.       

Von Bremen aus versuche ich, den Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine zu helfen. Jeden Mittwoch treffen wir uns online mit Museumskollegen aus der Ukraine und Deutschland, um wichtige Fragen zum Schutz der Kulturgüter in der Ukraine zu klären. Unsere deutschen Kollegen aus Berlin und Bremen helfen den ukrainischen Museen mit Verpackungsmaterial, Kisten, Klimatechnik und Ähnlichem. Diese Solidarität der deutschen Museumsmitarbeiter, die den ukrainischen Museen helfen wollen, ist sehr stark zu spüren. So wurden bereits humanitäre Hilfspakete von Berlin aus an Museen in der Ukraine – Lemberg, Kiew, Tschernihiw – gesandt.

Russische Truppen zerstören ukrainische Städte, vergewaltigen Frauen und töten Zivilisten und Kinder. Sie zerstören nicht nur militärische Einrichtungen, sondern auch Wohnhäuser, Schulen, Waisenhäuser, medizinische Einrichtungen, Kirchen, Museen und andere zivile und kulturelle Objekte sowie die gesamte Infrastruktur in Bucha, Irpin, Mariupil, Militopil, Donezk, Lugansk und vielen anderen Städten. Das Nationale Historische Museum der Ukraine wurde bislang nicht zerstört und nicht ausgeraubt.

Natürlich müssen wir in erster Linie die Menschen retten, aber auch unser kulturelles Erbe. Wenn ein Volk sein kulturelles Erbe verliert, verliert es auch seine Geschichte und seine nationale Identität. Viele Museen in der Ukraine wurden teilweise oder vollständig zerstört, in Charkiw, Luhansk, Mariupol, Donezk, Jahotyn und Tschernihiw. In einigen Fällen haben russische Invasoren Kunstwerke aus den Museen gestohlen und nach Russland mitgenommen. Noch wissen wir aber nicht, ob auch Objekte des nationalen und des Weltkulturerbes darunter sind. Die Ukraine steht vor der komplexen Aufgabe, sie zu identifizieren, um später Verhandlungen über ihre Rückgabe führen zu können.

In dieser schwierigen Situation des Krieges ist die Solidarität Deutschlands mit der Ukraine sehr wichtig. Es tut gut zu wissen, dass man nicht allein ist und dass es Menschen in der Nähe gibt, die einen verstehen und unterstützen. Eine engere Zusammenarbeit zwischen den Nationen auf dem Gebiet der Kultur wird helfen, unser kulturelles Erbe zu schützen. Die Ukraine steht vor der großen Aufgabe, das Land wiederaufzubauen, Krankenhäuser, Schulen, Museen und Wohnungen. Der Glaube an den Sieg der Ukraine gibt Hoffnung auf die Wiederbelebung des Landes, und diese Hoffnung ermöglicht es, heute zu leben und zu gestalten.