Kleiderbügel aus Holz mit der Aufschrift: S. Silbermann.

Januar 2021

Ein scheinbar unscheinbarer kleiderBügel

Über das Schicksal der Bremer Kaufmannsfamilie Silbermann

Von Asmut Brückmann

Seit 1996 gedenkt Deutschland an jedem 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus. Wir nehmen den Tag zum Anlass, an das Schicksal der jüdischen Kaufmannsfamilie Silbermann zu erinnern, die von den Nazis drangsaliert und 1938 aus Bremen und Deutschland vertrieben wurde. Ein hölzerner Kleiderbügel ihres Konfektionsgeschäftes befindet sich in der Sammlung des Focke-Museums.      

Ein Kleiderbügel? Im Museum? Beim Einkauf von Textilien werden den Kunden heute kaum noch Kleiderbügel aus Holz mitgegeben. Früher dagegen waren sie in Kleiderschränken und an Garderoben allgegenwärtig. Textilgeschäfte nutzten sie zu Werbezwecken. Aber war der Bügel, den eine Frau aus Schwachhausen  mit ein paar anderen Fundstücken im Focke-Museum abgab, deswegen schon museumsreif? Beim Aufräumen waren ihr Sachen in die Hände gefallen, die sie schon lange nicht mehr benutzt, ja nicht einmal vermisst hatte. Manches kam gleich in den Mülleimer, anderes schien aber zum Wegwerfen zu schade. Kurz entschlossen bot sie diese dem Focke-Museum an, unter anderem auch den besagten Kleiderbügel. Und damit war sie in diesem Fall an der richtigen Adresse. Denn das Museum bewahrt nicht nur kunsthistorisch wertvolle Gemälde und Skulpturen oder wichtige Dokumente, Grafiken und Fotos aus der Bremer Geschichte auf, sondern auch zeittypische Gegenstände früherer Alltagskultur, aus Handwerk und Gewerbe, Haushalt und Verkehr. Manchmal macht auch eine besondere Geschichte einen Gegenstand aufbewahrenswert.

Aber was war nun Besonderes an diesem Kleiderbügel? Einen ersten Hinweis gab der eingeprägte Werbeaufdruck „S. Silbermann Bremen Nordstr. 193/195″. Recherchen in zeitgenössischen Adressbüchern, in der Datenbank der Gesellschaft für Familienforschung  „Die Maus“ und im Archiv des Kulturhauses Walle „Brodelpott“ halfen weiter. Sie offenbarten eine tragische Geschichte, die sich hinter diesem simplen Kleiderbügel verbarg. Sally Silbermann war ein jüdischer Kaufmann, der seit den 1920er-Jahren in der Nordstraße 193/195 (Ecke Schönebecker Straße, zwischen Grenzstraße und Schulze-Delitzsch-Straße) ein Herrenbekleidungsgeschäft führte. Er war am 11. Mai 1889 geboren und stammte aus Lemförde. Die Liebe führte ihn nach Bremen: 1913 heiratete er Gretchen Neuberg, am 30. April 1890 geborene Tochter des jüdischen Bremer Kaufmanns Milius Neuberg (1862-1921). Dieser besaß ein Herrenbekleidungsgeschäft in der Faulenstraße 2. Schon bald stieg Schwiegersohn Sally in die Firma seines Schwiegervaters ein. Vermutlich erkrankte Neuberg, denn nach kurzer Zeit übergab er die Geschäftsführung an Silbermann. Der tatkräftige neue Chef eröffnete in Walle an der Nordstraße 193/195 eine Filiale. Diese lief zunächst noch unter dem Namen Neuberg (siehe Foto). 1921 starb sein Schwiegervater und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hastedt begraben. Jetzt übernahm der junge Silbermann die Firma endgültig. Er schloss den Laden an der Faulenstraße und betrieb sein Geschäft nur noch in Walle. Dort konnten Sally und Gretchen Silbermann direkt über den Geschäftsräumen wohnen.

Ansicht des Bekleidungsgeschäftes Silbermann in der Nordstraße.
Das Geschäft von Sally Silbermann an der Nordstraße 193/195 lief zunächst noch unter dem Namen seines Schwiegervaters Neuberg. © Kulturhaus Walle Brodelpott / Bildarchiv

Jüdische Kaufleute waren in Walle keine Seltenheit. Sie gehörten dazu und trugen zur Vielfalt des Wohnviertels mit seinen zahlreichen kleinen Geschäften bei. Damals konnte man an der Nordstraße für den täglichen Bedarf fast alles kaufen: Obst und Gemüse, Südfrüchte, Zigarren, Hüte und Mützen, Weißwäsche, Eisenwaren, Drogerieartikel usw. Es gab Schuhmacher, Bäcker, Schlachter und andere Handwerksbetriebe. In Gaststätten konnten sich die Anwohner treffen, ihr Feierabendbier trinken und über Politik oder Probleme am Arbeitsplatz diskutieren. Vornehmlich „kleine Leute“ prägten das Viertel, Hafen- und Werftarbeiter, Angestellte und Arbeiterinnen der Jutespinnerei. Die Umgebung der Nordstraße war daher auch ein Schwerpunkt der Arbeiterbewegung. An der Nordstraße lag auch das 1928 fertiggestellte „Volkshaus“ mit den Plastiken von Bernhard Hoetger (heute Hans-Böckler-Straße; der Straßenverlauf wurde nach den großflächigen Zerstörungen durch den Luftangriff vom August 1944 beim Wiederaufbau des Bremer Westens verlegt). Der Neubau beherbergte in über 400 Räumen u. a. zahlreiche Gewerkschaftsbüros, die Arbeiterkammer, Arbeiterkultur- und Sporteinrichtungen, eine Bibliothek, eine gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft sowie ein Hotel und ein Ledigenheim.

Das war das Umfeld, in dem Sally Silbermann seine Herrenbekleidung verkaufte. „Das Geschäft der Silbermanns“ – so schreibt Benthe Stolz in einem Beitrag auf der Webseite der Überseestadt – „war eines der größten an der Nordstraße. Drei große Schaufenster zierten den Blick zur Straße. […] Stand eine Konfirmation an, machten sich die Waller auf den Weg zu Silbermanns Laden, wo es für diesen Anlass den passenden Anzug gab. Seine Kunden beschrieben Silbermann als großzügig. Das Sortiment war gut und günstig. Viele Jute-Arbeiterinnen kauften bei ihm ein, Waren ließ er auf Raten abbezahlen.“ Arbeitslosen Kunden gegenüber soll er besonders entgegenkommend gewesen sein. 

Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 wurde Wirklichkeit, was sich schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik bedrohlich angedeutet hatte. Die demokratische Ordnung wurde zerschlagen, SA-Trupps verprügelten Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter und kerkerten sie ein. Und die niedersten antisemitischen Affekte konnten sich austoben. Das bekamen auch Sally und Gretchen Silbermann zu spüren. Unter dem Motto „Deutsche! Kauft nicht bei Juden!“ rief das NS-Regime zum 1. April 1933 zu einem reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte auf. Organisiert wurde die Kampagne vom „Zentral-Komitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“, in der Presse und im Rundfunk unterstützt von Joseph Goebbels und seinem Propagandaministerium. SA-Gruppen marschierten vor jüdischen Geschäften auf, beschmierten die Schaufensterscheiben, grölten antisemitische Parolen und hinderten die Kunden am Betreten der Läden. Diese schlimme Erfahrung machten auch die Silbermanns. Doch noch hielten die meisten Kunden zu ihnen. Benthe Stolz zitiert in ihrem Artikel die im Archiv des Kulturhauses Brodelpott aufbewahrte Erinnerung einer Zeitzeugin, die damals alles beobachtet hatte: „Die Kunden ließen sich nicht beirren und bange machen, im Gegenteil, mit großen Kartons verließen sie das Geschäft.“

In der Folgezeit nahm der Druck auf die jüdische Bevölkerung immer mehr zu. Die Nürnberger Gesetze machten sie ab 1935 zu Bürgern zweiter Klasse, Ehen und sexuelle Kontakte mit „Deutschblütigen“ wurden unter Strafe gestellt. Nach und nach zogen die Nazis die Daumenschrauben weiter an: Berufsverbote und erzwungene  „Arisierungen“ jüdischer Geschäfte, Unternehmungen und Immobilien entzogen alteingesessenen Bremer Familien die wirtschaftliche Basis. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie ihren Glauben noch praktizierten oder sich schon vor langer Zeit von ihm abgewandt oder inzwischen Christen geworden waren. Es ging den Nazis um die Fiktion von einer angeblichen „jüdischen Rasse“ mit „jüdischem Blut“. Wer keinen „Ariernachweis“ beibringen konnte, stand jetzt vor dem Nichts. So musste das beliebte Warenhaus Bamberger am Doventor schließen und das Kaufhaus von Heymann & Neumann an der Obernstraße wurde „arisiert“.

Nun mussten sich die Silbermanns geschlagen geben. Ihr Lebenswerk war vernichtet. 1937 schlossen sie ihr Geschäft an der Nordstraße. Anfangs versuchten sie noch, es auf engem Raum im Nachbarhaus an der (heute dort nicht mehr existierenden) Schönebecker Straße 2 am Leben zu erhalten. Doch es hatte keinen Zweck. Sie entschlossen sich schweren Herzens, ihre angestammte Heimat zu verlassen. Am 14. September 1938 kehrten sie Deutschland den Rücken und wanderten nach Montevideo in Uruguay aus. Gerade noch rechtzeitig. So blieb ihnen ein schlimmeres Schicksal erspart. Die Pogromnacht im November 1938 und danach Krieg, Terror und Massenvernichtung erlebten sie nicht mehr mit. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

1939 ist Silbermanns Firma im Adressbuch nicht mehr verzeichnet, das Gebäude an der Nordstraße stand anscheinend leer. Ab 1939 war dort ein Kurt Hitz als Geschäftsinhaber gemeldet, der auch die Silbermannsche Wohnung an der Schönebecker Straße 2 übernahm. Er änderte den Firmennamen und warb bereits im Branchenverzeichnis von 1940 für sein „Fachgeschäft für Herren-, Knaben- und Berufskleidung“. Ob Hitz im Zuge der „Arisierung“ wie in den meisten vergleichbaren Fällen jüdisches Eigentum unter Wert erwarb, ist nicht bekannt.

Silbermannstraße in der Überseestadt
Nach der Familie Silbermann ist in der Überseestadt eine Straße benannt worden. © WFB/Beata Cece

Jedenfalls übernahm er ein bestens eingeführtes Fachgeschäft. Doch bereits 1944 wurde das Geschäftsgebäude an der Nordstraße durch den schweren Luftangriff auf den Bremer Westen zerstört. Kurt Hitz führte das ehemals Silbermannsche Geschäft nach dem Krieg noch ein paar Jahre vor dem Steintor weiter. Dann verlieren sich seine Spuren.

Durch Senatsbeschluss vom 1. 10. 2002 erhielt eine von der Konsul-Smidt-Straße abzweigende Straße in der Bremer Überseestadt den Namen Silbermannstraße. So erinnert wenigstens der Straßenname an das jüdische Ehepaar.